12. November 2024

Gesundheit braucht Politik – Zeitungsartikel

Hier folgt ein vom Syndikat verfasster Zeitungsartikel aus der Zeitschrift Gesundheit braucht Politik, herausgegeben vom Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ). Die Zeitschrift nimmt aktuelle Themen aus Gesundheit und Politik in den Blick und beleuchtet sie aus verschiedenen Perspektiven.

Das Poliklinik Syndikat

Herausforderungen und Perspektiven einer wachsenden Bewegung. Seit der Gründung des ersten Solidarischen Gesundheitszentrums auf der Veddel in Hamburg im Jahr 2017 haben sich deutschlandweit acht feste Gruppen in sozialer Trägerschaft in verschiedenen Städten etabliert: in Köln, Freiburg, Göttingen, Berlin, Dresden, Jena und Leipzig. Die Zentren befinden sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien, doch sie alle eint eine gemeinsame Vision: eine solidarische, emanzipatorische und diskriminierungssensible Gesellschaft zu fördern, die sich durch eine transformative und quartiersnahe Gesundheitsversorgung in den jeweiligen Stadtteilen manifestiert.

Im Mai 2023 wurde in Leipzig der Dachverband der Solidarischen Gesundheitszentren, das Poliklinik Syndikat, gegründet. Das Syndikat unterstützt insbesondere den Aufbau neuer Zentren. Diese entwickeln sich auf der Basis eines Grundsatzpapiers sowie den spezifischen Bedürfnissen des jeweiligen Stadtteils. Ein wichtiger Bestandteil des unterstützenden Prozesses ist der Austausch von Best-Practice-Ansätzen, der zweimal jährlich beim Verbandstreffen des Syndikats stattfindet, zu dem jede Mitgliedsgruppe eine Delegation entsendet. Das Syndikat wächst stetig. Derzeit gibt es zusätzlich zu den festen Gruppen in verschiedenen Städten und Gemeinden acht lose Gruppen, die bereits einen Anwärter*innenstatus im Syndikat haben: München, Tübingen, Frankfurt, Marburg, Nürnberg, Bonn, Berlin 2.0 und Lübeck. Auch im ländlichen Raum formieren sich Projekte in Demmin und Wahlsdorf, wo perspektivisch ein kleines Kultur- und Gesundheitszentrum entstehen wird, das noch offen für konzeptionelle Ausgestaltungen ist. Trotz der wachsenden Verbreitung und öffentlichen Wahrnehmung der Solidarischen Gesundheitszentren, etwa in Wahlprogrammen, handelt es sich in der Realität jedoch überwiegend noch um selbstorganisierte und prekär arbeitende, aber gemeinsam kämpfende Modellprojekte.

Ein langfristig nachhaltiges, flächendeckendes und realistisches Finanzierungskonzept fehlt bislang. Dies gilt sowohl für die Ortsgruppen als auch auf Syndikatsebene. Bisher wurde die Syndikatsarbeit vor allem durch Beiträge aus den einzelnen Mitgliedsgruppen finanziert; seit letztem Jahr gibt es jedoch die ersten Stiftungsförderungen, und perspektivisch soll vor allem die Einwerbung von Eigenmitteln das Syndikat finanziell tragen. Die Syndikatsarbeit wird überwiegend durch aktivistisches Engagement aus den Ortsgruppen, aber auch durch eine Lohnarbeitsstelle in Teilzeit, realisiert. Die Finanzierung der Zentren erfolgt meist durch einen Flickenteppich aus Fördergeldern, Spenden und Fördermitgliedschaften. Was diese ohnehin schon wackelige Finanzierung erschwert, sind die sich ändernden politischen Mehrheitsverhältnisse in den letzten Jahren. Die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen haben dies noch verstärkt, sodass die Akquirierung von kommunalen Fördergeldern perspektivisch schwieriger wird. Ein Ziel könnte sein, dass das Syndikat genau in solchen prekären politischen Situationen einspringt und den Ortsgruppen finanziell unter die Arme greift, damit sie vor Ort ihre Arbeit mit weniger Druck ausüben können. Hierfür wird das Syndikat auch in naher Zukunft eine Spendenkampagne ins Rollen bringen, um zum Beispiel durch Beisteuerung von Eigenmitteln Anschubfinanzierungen für Projekte zu erleichtern.

Das Poliklinik Syndikat verfolgt zudem das Ziel, gesundheitspolitische Forderungen zu formulieren und öffentlich zu vertreten. Ein Teil dessen ist die bundesweite und ortsübergreifende Lobbyarbeit, um langfristig sowohl die Zentrumsarbeit als auch das Gesundheitssystem insgesamt zu verbessern und so die transformative Grundidee umzusetzen.

Derzeit scheitert die langfristige Umsetzung von Polikliniken als Primärversorgungszentren auch an rechtlichen Hürden. Die Finanzierung der Kassensitze erfolgt durch Beitragszahlungen und folgt einer anderen finanziellen Logik als die Bausteine der Gemeinwesenarbeit und Beratung, die ebenfalls wesentliche Bestandteile des Poliklinik-Konzepts sind. Letztere können sinnvoll durch kommunale und stiftungsbasierte Förderungen über gemeinnützige Vereine finanziert werden. Allerdings gibt es derzeit noch keine Rechtsform, die alle vorgesehenen Bausteine zusammenfasst. Daher können Polikliniken nur durch eine Kombination verschiedener Rechtsformen sowie unterschiedlicher Lohn- und Abrechnungssysteme realisiert werden. Hier kann das Syndikat eine wichtige Rolle übernehmen, indem es die Interessen der Zentren vertritt und Bedarfe formuliert. Zu nennen wäre zum Beispiel die Forderung, dass Vereine, die fest im Stadtteil verankert sind, auch die kassenärztliche Primärversorgung unter ihrer Trägerschaft anbieten können.

Neben finanziellen Herausforderungen gibt es auch ideelle Fragen, wie etwa die, welche Ärzt*in oder Psycholog*in bereit ist, zu einem Einheitslohn zu arbeiten, der deutlich unter dem liegt, was diese Berufsgruppen außerhalb verdienen. Im Mittelpunkt des Selbstverständnisses des Poliklinik Syndikats steht ein Hierarchieabbau nach innen. Die historisch gewachsene Vormachtstellung des Arztberufs, die sich auch entlang intersektionaler Kategorien wie race, gender und ability in unterschiedlichen Gehältern im Gesundheitssystem manifestiert hat, soll kritisch hinterfragt und durch einen interdisziplinären und egalitären Ansatz ersetzt werden, bei dem allen Berufen der gleiche Expert*innenstatus zukommt. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema wird auf Syndikatsebene etwa durch die nach Berufen und Gender quotierte Besetzung des Gremiums Steuerungskreis aufgegriffen, um die Perspektiven des Dachverbands hin zur Interdisziplinarität und Intersektionalität zu schärfen.

Nicht nur in Deutschland manifestiert sich die Idee der solidarischen Gesundheitszentren zunehmend, auch international nimmt die Vernetzung Fahrt auf. Seit 2022 ist das Syndikat bei dem jährlichen Vernetzungstreffen »International Network of Social Clinics« (INOSC) vertreten, und im letzten Jahr fand die Ausarbeitung und Unterzeichnung eines Manifests statt, in dem sich die Mitglieder auf ihre Arbeit verständigen und ihre Zentren und Arbeitsweisen vorstellen. Ein Blick über den deutschen Tellerrand ist oft sehr inspirierend. Wie wäre es, wenn bedarfsorientierte Konzepte ambulanter Versorgung, wie bei »Médecins pour le Peuple« in Belgien, bereits fest im bestehenden Gesundheitssystem verankert wären? Wie würde unsere Zusammenarbeit aussehen, wenn alle, wie in der »Village Santé« in Grenoble, genau das Gleiche verdienen würden? Oder was würde es für unsere politische Arbeit bedeuten, wenn wir grundsätzlich autonom und ohne staatliche Förderungen arbeiten würden, wie die »Social Clinic« in Thessaloniki? In den letzten zehn Jahren haben sich solidarische Gesundheitszentren in Deutschland zu einer wichtigen Instanz im Diskurs um emanzipatorische Gesundheitsversorgung entwickelt. Durch ihre tägliche Arbeit tragen sie maßgeblich zur Verwirklichung der gemeinsamen Vision bei. Mit der Gründung des Poliklinik Syndikats haben sie nun einen politischen Dachverband ins Leben gerufen, der Synergien bündelt, die Professionalisierung und langfristige Etablierung der Zentren fördert und die Bewegung sowohl national als auch international vertritt. Das Poliklinik Syndikat blickt zuversichtlich in die Zukunft und sieht sich dank der vielfältigen Erfahrungen seiner Mitglieder gut gerüstet, um kommende Herausforderungen zu meistern.

Mari Zeller, Ergotherapeut*in in Lohnarbeit, Poliklinik – Solidarisches Gesundheitszentrum Leipzig e.V.,