4. November 2020
Unsere sozialen Verhältnisse machen krank, erklärt die Ärztin Kirsten Schubert. Krankenhäuser und ambulante Einrichtungen brauchen deshalb radikal neue Ansätze. Lokale Gesundheitszentren zeigen, wie es geht.
Von Kirsten Schubert
Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts, soll Schopenhauer gesagt haben. Wie unerlässlich die Auseinandersetzung mit der eigenen Gesundheit ist, wird den meisten Menschen allerdings erst bewusst, wenn sie oder Angehörige schwer erkranken. Das ist einerseits sinnvoll, würde einen die dauerhafte Präsenz der eigenen Vergänglichkeit doch verrückt machen. Andererseits lohnt sich die Auseinandersetzung mit dem Thema nicht nur aus persönlichen Gründen, sondern auch deshalb, weil es sich hierbei um einen Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse handelt. Wer arm ist, stirbt früher – das gilt weiterhin.
Die Lebenserwartung wird zu zwei Dritteln von den Lebens-, Arbeits-, Wohn-, Erholungs- und Verkehrsverhältnissen, sowie von Bildung und Ernährung beeinflusst, sagt der Gesundheitswissenschaftler und Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Prof. Rolf Rosenbrock. Oder andersherum: Unsere Gesundheit wird nur zu knapp einem Drittel von der Frage beeinflusst, wie gut unsere medizinische Versorgung ist. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit als einen „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ Es handelt sich also um ein Kontinuum. Niemand ist je vollständig und dauerhaft gesund. Die drei Teilbereiche sind so intensiv miteinander verwoben, dass kein Medikament der Welt, keine Maschine und keine App uns gesund machen kann.
Gesundheit ist und bleibt eine soziale – also eine politische Frage. Sind wir als Individuen im Stande, unsere körperliche und psychische Verfasstheit zu einem gewissen Maß zu beeinflussen, so sind die Möglichkeiten, unsere sozialen Verhältnisse alleine zu verändern, sehr begrenzt. Dies führt bei vielen Impulsgeber*innen für eine anderes Gesundheitssystem dazu, sich vorrangig mit der Verhaltensprävention oder Lebensstilmedizin (Ernährung, Entspannung, Bewegung, etc.) zu befassen. Und ja, auch da gibt es einen massiven Nachholbedarf. Traditionelle Schulmedizin, mit einer Tablette für jedes Symptom, ist sicherlich nicht der richtige Weg. Hierzu komme ich später.
Tatsache ist jedoch, dass die sogenannte „Gesundheitskompetenz“, also die Frage, wie gut eine Person sich im Gesundheitssystem zurecht findet und wie leicht es ihr fällt, Gesundheitsinformationen zu finden und zu verstehen, so eindeutig abhängig ist von der gesellschaftlichen Klasse, dass das Zurückfallen auf das Individuum die ungleiche Verteilung von Gesundheit nur verstärken würde. Um eine gesellschaftliche Analyse kommen wir beim Gesundheitsthema also nicht herum.
Inwiefern die sozialen Verhältnisse viele Menschen krank machen, lässt sich besonders stark beim Thema Wohnen erkennen. Wenn Hauseigentümer*innen und Immobilienunternehmen auf dem privatisierten Wohnungsmarkt Mieten innerhalb weniger Jahre mehr als verdoppeln dürfen (z.B. Berlin-Neukölln: 150 Prozent Mietsteigerung in zehn Jahren), scheint das gesundheitliche Wohlergehen der Menschen nicht das politisch-wirtschaftliche Hauptinteresse zu sein. Jede Mietsteigerung geht von dem Gesamtbudget ab, das eine Familie für Erholung, gesunde Ernährung oder Bildung ausgeben kann. Das Verlassen der gewachsenen sozialen Beziehungen und Unterstützungsstrukturen in direkter Umgebung, weil man „rausgentrifiziert“ wurde, führt zu Stress, Einsamkeit und Depressionen. Kinder, die im Wohnzimmer, umgeben von ihren kleinen Geschwistern Hausaufgaben machen müssen, schneiden öfter schlechter in der Schule ab. Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen und in Folge geringerem Einkommen haben durchschnittlich eine geringere Lebenserwartung und sind öfter krank.
„Health in all policies“ (Gesundheit in allen Politikbereichen) wäre das Mindeste. Ob die Wohnungs-, Sozial-, Verkehrs-, Umwelt-, Innen- oder Außenpolitik die Betroffenen gesünder macht, müsste die Prüffrage vor jeder Gesetzesänderung werden. Auch das Klima würde davon profitieren, denn wir sind ein Teil dieses Ökosystems. Unser gegenwärtiges kapitalistisches System erschöpft nicht nur die Ressourcen dieser Erde, sondern eben auch uns.
Gesundheit sollte keine Ware sein, doch sie ist es und wird es immer mehr. Schon jetzt gilt der sogenannte „Zweite Gesundheitsmarkt“ als die Branche mit den größten Wachstumschancen: Fitness, Wellness, Ernährung, frei verkäufliche Arzneimittel, Erholungsreisen… Alles was verspricht, gesund zu machen, wird konsumiert und zieht damit den Menschen das Geld aus der Tasche. Bei Nahrungsmitteln, wie den vor „Früchten“ strotzenden Fruchtgummipackungen, fällt der Gesundheitsbetrug am deutlichsten auf. Das Mindestmaß ist sicherlich die Lebensmittelampel, besser wäre es, solche Verbrauchertäuschungen komplett zu verbieten.
Es ist weiterhin selbstverständlich, dass man nicht nur mit Gesundheit wirbt, sondern auch, dass mit Kranken Geld gemacht werden darf. Mehr als ein Drittel der Krankenhausträger sind in Deutschland private Unternehmen – damit steht Deutschland weltweit ganz oben, noch vor den USA. Die Krankenhauskonzerne brüsten sich damit, hohe Dividenden an ihre Aktionäre und Aktionärinnen auszuzahlen. Dividenden, die aus den Geldern der Beitragszahler*innen und durch Fließbandmedizin und Pflegenotstand erwirtschaftet wurden. Auch im ambulanten Bereich, der schon immer privat organisiert war, werden Entscheidungen entlang von Profiten getroffen. Über das Eintrittstor der Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) breiten private Gesundheitsunternehmen sich auch außerhalb der Krankenhäuser aus.
Das zweite zentrale Problem des Krankenversorgungssystems ist die massive Segmentierung. Die einzelnen Institutionen – Krankenhäuser, Arztpraxen, Apotheken, Pflegedienste, Physiotherapiepraxen, etc. – funktionieren in der Regel nebeneinander, statt miteinander. Die Patient*innen tauchen irgendwo auf und dann wieder unter. Hier kriegen sie einen Arztbrief, dort eine Überweisung. Von Koordination und Austausch kann keine Rede sein. Ideale Voraussetzungen für Über-, Unter und Fehlversorgung.
Der Orthopäde schreibt Krankengymnastik auf, weil er denkt, die Kopf- und Nackenschmerzen seien muskulär, dabei hat der Patient Bluthochdruck. Dem Patienten wird bei der Internistin zur Sicherheit nochmal Blut abgenommen, obwohl ein anderer Kollege erst vor wenigen Tagen die Blutwerte bestimmt hat. Um eine einen langanhaltenden Schwindel abzuklären, muss eine Patientin nach stundenlanger Terminsuche am Telefon drei bis vier Fachärzt*innen – verteilt über mehrere Monate – aufsuchen. Gerade Menschen mit Mehrfachbelastungen – Deutsch als Fremdsprache, Vollzeitjob, alleinerziehend – fallen hier durch die Maschen des Systems.
„Alles unter einem Dach“ wünschen sich viele Patient*innen. Was in vielen anderen Ländern Standard ist, muss sich hier erst entwickeln – und zwar gegen den Widerstand vieler niedergelassener Ärzt*innen. Wurden die Polikliniken in der DDR zunächst nach der Wende geschlossen, entstehen seit 2004 sogenannte Medizinische Versorgungszentren (MVZ). Doch hier arbeiten neben den Medizinischen Fachangestellten (ehem. Arzthelfer*innen) nur Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen. Ernsthafte interprofessionelle Arbeit gibt es vorrangig in psychosomatischen oder psychiatrischen Einrichtungen wie um Beispiel Tageskliniken oder Krankenhäusern. Im ambulanten Bereich ist dies bis auf wenige Ausnahmen eine Seltenheit. Dabei profitieren alle – die Gesundheitsarbeiter*innen und die Patient*innen – von einem solchen Austausch. Die Einschätzung eines Sozialarbeiters oder einer Psychotherapeut*in sind essentiell in der Begleitung insbesondere chronisch kranker Menschen.
Ein weiteres Problem ist das Finanzierungssystem, das nach einzelnen Leistungen bezahlt, nicht nach dem eigentlichen Bedarf. Dies gilt für Arztpraxen, die neben einer geringen Pauschale pro Patient*in und pro Quartal das Geld über das Abrechnen möglichst vieler Einzelleistungen reinholen müssen, ohne dabei ein bestimmtest Budget zu überschreiten. Jede Ziffer (der je eine einzelne Handlung wie ein Gespräch über zehn Minuten, ein Urintest oder eine Blutentnahme entspricht) muss genau notiert werden, damit die Kasse stimmt. So geht viel Zeit verloren, die für das eingehende Gespräch mit dem Patienten notwendig wäre. Ähnlich ist es im Krankenhaus. Hier werden Diagnose-bezogene Fallgruppen abgerechnet, die sogenannten DRGs (Diagnosis Related Groups). Das Bündnis Krankenhaus statt Fabrik hat sich eingehend damit beschäftigt. Die hierdurch getriggerte Geschwindigkeit der Sprechstunde oder Stationsarbeit verführt viele ärztliche Kolleg*innen zur Überdiagnostik und vorschnellen Therapie. Bei Husten kriegt man im Krankenhaus schnell mal ein Röntgen oder CT (Computertomographie), statt abgehört oder befragt zu werden. Die Ärzt*innenschar rauscht bei der Visite an den Patient*innen vorbei und ordnet erstmal eine ganze Reihe Untersuchungen an, viele davon durchaus unangenehm oder gefährlich für die Patient*innen. Bei deutlich erhöhten Blutfetten verschreiben Hausärzt*innen meist sofort Cholesterinsenker und erwähnen die notwendigen Ernährungsumstellungen und Sport höchstens mahnend in einem Nebensatz. Medikamente werden großzügig aufgeschrieben, das geht schnell. Für ausführliche Gespräche über den Lebensstil und vor allem: über die Lebensbedingungen, ist oft keine Zeit. Gelernt haben das die meisten auch nicht in ihrer Ausbildung.
Im Krankenhaus sind Pflege und andere Berufsgruppen wie Physiotherapeuten*innen oder Sozialarbeiter*innen durch finanziell begründeten Personalmangel und Ausgliederungen aus dem Betrieb unter Druck und können kaum noch sinnvoll ihre erlernten Berufe ausüben. Die neoliberalen Direktiven – Profit, Wettbewerb, Privatisierung – sorgen auch in diesen Berufsfeldern dafür, dass die Arbeitskräfte kaum noch sinnvoll ihrer Tätigkeit nachgehen können.
Selbstverständlich versuchen die meisten Gesundheitsarbeiter*innen aus den gegebenen Umständen das Beste zu machen und geben sich nicht nur dem ökonomischen Druck hin. Aber dies ist nicht immer leicht. Besonders dramatisch wird es bei unnötigen Operationen: Dass wir in Deutschland im europäischen Vergleich deutlich mehr Herzkatheteruntersuchungen und Hüft-OPs ausführen, hat sich schon herumgesprochen. Um es deutlich zu machen: Es geht um vermeidbare Eingriffe in den Körper mit einem Risiko, etwa für massive Blutungen oder sogar Tod. Da wird dann auch dem 90-jährigen dementen Herren das neuste Model einer Herzklappe für schlappe 30.000 Euro eingesetzt. Oder der korpulenten 70-jährigen Dame nach eher lauwarmen Versuchen, die Schmerzen mit Bewegung, Ernährungsumstellung und Physiotherapie anzugehen, ein neues Hüftgelenk für 7000 Euro verordnet. Man sollte diese Debatte sicherlich nicht nur ökonomisch führen. Dennoch gilt, dass jede unnötige Behandlung von Kassenbeiträgen bezahlt wird und somit mit dem Geld, das uns für ein gesundes Leben zur Verfügung stände. Dramatischer sind natürlich auch die direkten Schäden, die durch die unnötigen Operationen entstehen können. Nicht wenige Menschen schlagen sich mit der Diagnose „Failed back surgery syndrom“ (FBSS) herum, also mit den Folgen einer misslungenen Rückenoperation.
Als vierten Faktor der Fehlversorgung möchte ich die Symptomorientierung nennen. „Tablettenfalle“ nennt Professor Ingo Froböse von der Sporthochschule Köln dieses Problem und führt aus: „Vom Grundgedanken der Medizin, dem Heilen, hat sich unser Gesundheitswesen weit entfernt. Stattdessen haben wir ein System der Reparatur und der Symptombehandlung aufgebaut – mit aufwendigen, ebenso kostenintensiven wie erträglichen Diagnoseapparaten und -verfahren –, das bei den lebensstilbedingten chronischen Erkrankungen langfristig und nachhaltig leider überhaupt keinen Effekt hat!“
Ich weiß nicht, ob sich unser aktuelles System wirklich von einem Ideal „entfernt“ hat. Das setzt voraus, dass es mal anders war. Fest steht: Es wird nur ein Bruchteil der Zeit auf Ursachenforschung und Gesundheitsförderung verwandt. Am Beispiel der sogenannten Altersdiabetes kann man dies schön darstellen. Es ist eben komplex, zeitaufwändig und nicht so lukrativ, sich immer wieder mit dem Patient*innen über ihre Lebensbedingungen und Ernährungsweise zu unterhalten. Unter einer halben Stunde ist das sinnvoll kaum möglich. Eine Tablette hingegen ist in zwei Minuten aufgeschrieben. Es ist ermüdend, die Patient*innen ständig wieder in die krankmachenden Verhältnisse zurück schicken zu müssen. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Eine gute Ärzt*in müsste eigentlich so etwas wie der TÜV für die gesellschaftlichen Bedingungen sein.
Insbesondere diese vier beschriebenen Aspekte – die Privatisierung der Gesundheitsversorgung, die Segmentierung, das leistungsorientierte Finanzierungssystem, sowie die Symptomorientierung – sorgen in der Versorgungskette dafür, dass viele der einzelnen Akteur*innen versuchen für sich selbst den maximale finanziellen Gewinn zu erzielen, statt die Gesundheit der Menschen im Blick zu haben.
Wie könnte ein Gegenentwurf aussehen und vor allem: wer könnte ihn umsetzen?
Es ist nicht einfach, „out-of-the-box“ zu denken. Wir sind dieses in großen Teilen zerstückelte, profit-orientierte und Ärzt*innen-zentrierte Gesundheitswesen gewöhnt. Selbst für die Angestellten und Nutzer*innen dieses Systems, die ernsthafte Kritik üben, ist ein komplett anderes Modell schwer vorstellbar. Es braucht also Orte, an denen man erleben kann, wie es anders geht. Ohne diese, so meine ich, wird es keine wirkliche Veränderung geben. Betroffene müssen sich zusammentun und es wagen, gemeinsam „Leuchtturm-Projekte“ aufzubauen. Diese sollten Orte des „transformativen Lernens“ sein, in denen immer wieder durch kritische (Selbst-)Reflexion Denkgewohnheiten hinterfragt werden. Der Soziologe Jack Mezirow, Begründer dieser Theorie, beschrieb ausführlich die verschiedenen Phasen, die hierbei durchlaufen werden. Leuchtturm-Projekte dürfen nicht statisch sein, doch sie brauchen Grundsätze, an die sich halten, da die Gefahr sonst zu groß ist, wieder in alte Muster zurück zu verfallen.
Was sind die Grundsätze?
Ich möchte die einzelnen Punkte anhand von Beispielen ausführen, die meines Erachtens Leuchtturm-Charakter haben: Für Bewegung sorgte das Bündnis Krankenhaus statt Fabrik, das sich gegen eine Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens wendet und dabei insbesondere die aktuelle Krankenhausfinanzierung durch Fallpauschalen angreift. Das Bündnis wuchs aus den gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen für mehr Personal und Mitbestimmung an der Berliner Charité vor einigen Jahren – so viel zum Mythos, dass man in Krankenhäusern nicht streiken könne – und hat seither zur Mobilisierung der Beschäftigten vieler Klinikstandorte in ganz Deutschland geführt.
Ein weiteres positives Beispiel liefert ein kleines Krankenhaus im brandenburgischen Spremberg. Nach einer drohenden Insolvenz übernahmen die Beschäftigten des Hauses den Betrieb. 51 Prozent der Gesellschafteranteile gehören nun einem Förderverein, welcher zu 90 Prozent aus Mitarbeiter*innen des Hauses besteht. Die restlichen Anteile gehören den Bürger*innen der Stadt. Das heißt, in allen zentralen Fragen, die das Krankenhaus betreffen, entscheiden sowohl die Angestellten als auch die potenziellen Patient*innen mit.
Um den komplexen Bereich der möglichen Finanzierungsalternativen etwas mehr zu veranschaulichen, lohnt sich ein Blick nach Belgien: Ungefähr 10 Prozent der ambulanten Versorgung haben dort eine besondere Form der Finanzierung: das Forfait-System. So erhalten zum Beispiel die elf Gesundheitszentren der sozialistischen Ärzt*inneninitiative Médecine pour le Peuple ihr Budget genau angepasst an den Bedarf der Menschen, die sie versorgen. Nach 42 Kriterien errechnet die zuständige Krankenversicherung, wie viel ein Zentrum pro Patient*in und Monat erhält. Eine Pro-Kopf-Bezahlung also – ein capitation-System. Einbezogen werden Alter, Häufigkeit von bestimmten Erkrankungen, sozioökonomischer Status oder Grad der Behinderung. Der Vorteil ist, dass die Zentren diesen Betrag immer bekommen, ganz egal ob die Patientin kommt oder nicht. Hierdurch entsteht eher ein Anreiz, die Patient*innen gesund zu erhalten bzw. zu heilen. Da die Patient*innen eingeschrieben sind, kann man sich nicht der Verantwortung entziehen. Werden sie wegen unzureichender Behandlung (z.B. nur die Symptome aber nicht die Ursache) immer kränker, kommen sie öfter und das Zentrum verbraucht mehr von seinem festen Budget. Fühlen sie sich gesund, kommen sie selten oder gar nicht ins Zentrum. In Deutschland hingegen bekommt man die Quartalspauschale nur, wenn die Patient*innen auch mindestens einmal pro Quartal da waren. Niedergelassene Ärzt*innen profitieren hier also, wenn die Patient*innen wenigstens viermal im Jahr in die Praxis kommen. Aber bitte nicht viermal in einem Quartal!
In den Gesundheitszentren der belgischen Initiative (ähnliche Projekte gibt es in Österreich und Griechenland) laufen noch viele weitere Dinge anders. Unter anderem ist es selbstverständlich, dass sich die Zentren auch in anderen politischen Bereichen positionieren: zum Beispiel gegen schlechte Arbeitsbedingungen in einer nahe gelegenen Fabrik, gegen die Feinstaubbelastung durch den Autobahnring in Antwerpen oder gegen die Macht der Pharmaunternehmen. Viele der Ärzt*innen sind auch im jeweiligen Stadtrat politisch aktiv.
Eine der ersten Initiative, die sich bewusst zur Aufgabe gemacht hat, konkrete Alternativen der Versorgung im ambulanten Bereich aufzubauen, ist das Poliklinik-Syndikat, in dem auch ich aktiv bin. Seit knapp zehn Jahren recherchieren, diskutieren und experimentieren wir mit dem Ziel, Stadtteilgesundheitszentren aufzubauen, die unserem Ideal einer guten Gesundheitsversorgung möglichst nah kommen. Vor drei Jahren konnten wir unseren ersten Standort, die Poliklinik Veddel in Hamburg, eröffnen. In Berlin-Neukölln arbeiten wir derzeit unter dem Namen Gesundheitskollektiv am Aufbau eines Stadtteilgesundheitszentrums. Anfang 2021 ist der Umzug auf das Gelände der alten Kindl-Brauerei im Rollberg-Kiez geplant. Bereits in Betrieb sind eine mobile Gesundheitsberatung, eine Kinder- und Jugendpsychotherapie und eine Kinderärzt*innenpraxis mit sozialmedizinischer Familienbegleiterin. Auch in anderen Städten engagieren sich Menschen aus dem Gesundheits- und Sozialbereich für die Gründung solcher Zentren – unter anderem in Leipzig, Dresden, Halle und Freiburg.
Wie müsste also ein Gesundheitssystem aussehen, das uns gesund macht? Demokratisch, interprofessionell, gemeinnützlich. Und zwar auf allen Ebenen: bei den sogenannten „Leistungserbringer*innen“ im Krankenhaus, in anderen stationären Einrichtungen, im ambulanten Bereich, aber auch auf der Ebene der Krankenkassen und Bundesausschüsse. Es bräuchte eine Bürger*innenversicherung für alle. Und ein System, in dem die Pharma-Forschung nicht von Profiten abhängig ist.
Jeder Stadtteil hätte in dieser Utopie eigene Nachbarschafts- und Gesundheitszentren, finanziert durch Gelder der Krankenkassen oder Steuergelder, welche nicht leistungsbezogen, sondern als Gesamtbudget ausgezahlt werden. Es wären Orte des Austauschs und der Selbstorganisation. Menschen mit ähnlichen Erfahrungen würden sich gegenseitig unterstützen, so wie man das von den Anonymen Alkoholikern und anderen Selbsthilfegruppen kennt. Beratung und Begleitung bei verhaltenspräventiven Lebensstiländerungen rund um Ernährung, Bewegung und Entspannung gingen vor die Verschreibung von Medikamenten. Ernährungsberater*innen, Physiotherapeut*innen und andere Berufsgruppen würden die Patient*innen mit kompetenter Beratung begleiten. Primär-, Sekundär-, Tertiär-, und Quartärprävention würden den roten Faden bilden. Pharmaunternehmen müssten nicht für ihre Produkte mit falschen Versprechungen werben. Verschriebene Medikamente würden regelmäßig mit den Pharmazeut*innen besprochen, welche auch eine offene Sprechstunde zur Beratung von Medikationsplänen anbieten. Apotheken wären nicht auf den Verkauf von Cremes, Erkältungmittelchen und Vitaminpräparaten angewiesen.
In Ansätzen – auf lokaler Ebene – gibt es diese alternativen Strukturen bereits. Das Ziel: ein richtiges Gesundheitssystem im falschen aufzubauen. Bis es irgendwann nur noch ein System gibt – eines, das gesund macht.
Kirsten Schubert arbeitet in einer Hausarztpraxis in Berlin. Sie ist Mitglied im Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ), baut aktuell ein solidarisches Gesundheits- und Sozialzentrum in Neukölln auf und engagiert sich seit mehr als zehn Jahren zum Thema globale und lokale Gesundheitspolitik.
Der Artikel erschien zu erst im Rahmen der Debatte „Was wäre, wenn die Gesundheitsversorgung frei wäre?“ im WWW-Mag.